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Künstliche Intelligenz

Ein Jahr ChatGPT: die disruptive Kraft einer KI

Am 30. November 2022 machte OpenAI seinen Chatbot „ChatGPT“ der Öffentlichkeit zugänglich. Das hat die Wahrnehmung und Nutzung von KI grundlegend verändert.

Die Schüler merkten als erste, welches Potenzial in der neuen Technologie steckt. Noch bevor die meisten begriffen hatten, was mit der neu veröffentlichten Text-KI ChatGPT alles möglich ist, wurden damit Hausaufgaben verfasst und an ein weitgehend ahnungsloses Lehrerkollegium abgeliefert. Die wunderten sich erst über das gestiegene Niveau der eingereichten Arbeiten, wenig später setzte eine intensive Diskussion darüber ein, ob man dieses Tool nicht verbieten müsste. Lange her. Heute, nur ein Jahr später, ist ChatGPT aus dem Schulalltag nicht mehr wegzudenken. Nach einer Yougov-Umfrage nutzen bereits 68 Prozent der Schüler, Azubis und Studierenden ChatGPT oder ähnliche KI-Tools für ihre Haus- oder Seminararbeiten. Und auch die Lehrer sind kräftig dabei. Vor allem Deutschlehrer, geht aus Daten des Unternehmens Fobizz hervor, nutzen inzwischen ChatGPT.

Der Blick auf Lehrer und Schüler ist nur ein Ausschnitt in unserer Gesellschaft, in dem sich die disruptive Kraft der Text-KI widerspiegelt. Vor zwölf Monaten, am 30. November 2022, machte das US-Unternehmen Open AI seinen Chatbot der Öffentlichkeit zugänglich, ein Moment, der von führenden KI-Experten heute mit der Mondlandung verglichen wird. Bereits zwei Monate später zählte ChatGPT rund 100 Millionen aktive Nutzer. Diesen Oktober zählte die Anwendung 1,7 Milliarden wöchentliche Besucher, so das IT-Unternehmen Similarweb. Nach einer repräsentativen Befragung des Verbandes Bitkom hat in Deutschland mehr als ein Drittel den Chatbot getestet. Die meisten nutzen ihn privat, immerhin aber die Hälfte setzt die KI auch beruflich ein. ChatGPT habe bei Künstlicher Intelligenz den Turbo gezündet, so Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst. „Die Anwendung war für sehr viele Menschen der erste bewusste Kontakt mit Künstlicher Intelligenz.“

Sam Altman, der maßgebliche Kopf hinter der Erfindung, über den gerade so viel diskutiert wird, hat es damit geschafft, Künstliche Intelligenz aus dem Backend in das Frontend zu hieven. In den Jahren zuvor war KI ein Fall für Techies und IT-Nerds. Mit ChatGPT wurde sie ein Tool für Millionen, das easy zu bedienen ist und dessen Vorteile so leicht nachvollziehbar sind wie die der Google-Suche. Das sorgte nicht nur für immer neue Nutzer, sondern löste auch eine Art Goldgräberstimmung im Bereich der Generativen KI aus. Bis heute werden jede Woche Dutzende neuer Tools im Bereich von Text-, Bild-und Sprach-KIs auf den Markt geworfen. „Eine derartige technologisch getriebene Dynamik, wie aktuell im Bereich der generativen KI habe ich bisher nicht erlebt“, sagt der KI-Experte und Tech-Spezialist Simon Graff. Und ChatGPT mit seinen Updates sei der Schrittmacher. Graff: „Gefühlt lernt ChatGPT jede Woche neue Features, sehen, sprechen, Daten-Analyse, individuelle Rollen.“ Das wiederum verstärkt den Hype immer weiter. Als Open AI Mitte November die jüngste Version, GPT-4 Turbo, vorstellte, mit der man sogar ohne Programmierkenntnisse eigene GPTs erstellen kann, war der Ansturm einfach zu groß: Die Anmeldungen mussten erstmal ausgesetzt werden.

Anwendung für alle Branchen relevant

Vor diesem Hintergrund wirkt wenig überraschend, dass Unternehmensberater wie McKinsey ein gewaltiges Wirtschaftspotenzial in diesem Bereich sehen. In ihrem „State of AI Report“ konstatieren sie, dass ein Viertel der Führungskräfte im C-Level-Bereich generative KI beruflich nutzt, ein weiteres Viertel habe in ihren Unternehmen den Einsatz geplant. 40 Prozent wollen deshalb entsprechend investieren, was McKinsey zu einer atemberaubenden Hochrechnung veranlasst. Zwischen 2,6 und 4,4 Billionen US-Dollar könnte die Weltwirtschaft durch den GenAI Boom wachsen – eine Zahl, in etwa so groß wie das Bruttosozialprodukt von Großbritannien. Was dies für Deutschland bedeutete, bezifferten Google und IW Consult in der gemeinsam aufgelegten Studie „Der digitale Faktor“: Danach könnte generative KI rund 330 Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung in Deutschland beitragen.

Solche Zahlen sind deshalb vorstellbar, weil die Anwendungsbereiche von ChatGPT & Co. so vielfältig und damit für die unterschiedlichsten Branchen relevant sind. Egal ob Restaurant, Touristikunternehmen, Agentur, Dienstleister, Händler oder Großkonzern: Überall finden sich sinnvolle Einsatzbereiche, gefühlt werden jeden Tag neue entdeckt und getestet. Unternehmen wie der Textildiscounter Takko führte kürzlich auf Basis des KI-Sprachmodells GPT-4 einen Chatbot für die eigenen Mitarbeiter ein, der Axel Springer Verlag launchte für „Bild“ den Bot „Hey_“, mit dem die Leser interagieren können, die Händler Otto und Zalando kreierten KI-Assistenten, die einen beim Shopping unterstützen, und der französische Autobauer DS kündigte an, ChatGPT ins Auto zu integrieren. Amazon wiederum bietet seinen Händlern an, ihre Produktbeschreibungen über ein eingebautes KI-Tool verfassen zu lassen, während die Plattform gleichzeitig von KI-generierten Romanen geflutet wird. Die Beispiele lassen sich nahezu beliebig fortführen. E-Mails, Social-Media-Posts, Marketingtexte – zunehmend werden sie von ChatGPT verfasst. Der Software-Consulter Capterra hat im August eine Umfrage durchgeführt, wo Generative KI in den Unternehmen eingesetzt wird. Ergebnis: nahezu überall. In der Texterstellung (47 Prozent), Textbearbeitung (44), aber auch für das Programmieren (31) oder dem Entwurf von Produktdesigns (29).

Mit dieser vehementen Veränderung tun sich viele Fragen auf: juristische, moralische, gesellschaftliche und unternehmerische. „Auf der einen Seite beflügelt diese Form der KI neue Ideen, ermöglicht neue Perspektiven und einen ungeahnten Produktivitätsboost“, sagt Simon Graff. Auf der anderen Seite aber könnte standardisierte Arbeit erst ihre Anerkennung, später dann ihren Anspruch auf Bezahlung verlieren. Die Diskussion schwankt zwischen der Angst vor einem Jobverlust und einer optimistisch gefärbten Zukunftsvision. Erst kürzlich prophezeite beispielsweise der Microsoft-Gründer Bill Gates eine neue Arbeitswelt, in der die 3-Tage-Woche – dank KI – durchaus verbreitet sei.

ILO: GenAI wird Arbeitswelt eher verbessern

Im Moment, so scheint es, ist die Realität von beiden Modellen noch weit entfernt. Zu diesem Schluss kommt die weltweit angelegte Studie „Generative AI and Jobs“ der International Labour Organization (ILO), einer Organisation der Vereinten Nationen, die sich um Arbeits- und Sozialstandards kümmert. Darin wurde der Impact von Generativer KI auf die Arbeitswelt untersucht. Ergebnis: Generative künstliche Intelligenz werde die Arbeitswelt eher verbessern als abschaffen, weil sie zwar viele Aufgaben automatisiert, aber nicht vollständig übernimmt. Allerdings, das sagen die Studienautoren auch, gelte dies nicht für die Ewigkeit. Es sei nicht genau zu prognostizieren, welche Wendung die Transformation nehme. „Es sind die Menschen, die hinter der Entscheidung stehen, solche Technologien zu übernehmen. Und es sind die Menschen, die diesen Übergangsprozess leiten müssen”.

Helmut van Rinsum
Der Autor ist Fachjournalist rund um das Thema “Künstliche Intelligenz”. Mit seinen Beiträgen beliefert er verschiedene Redaktionen der dfv Mediengruppe, zu der auch Career Pioneer zählt.
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