Vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt. Eine Krise geht in die nächste über. Technologische Entwicklungen sind Helfer, sorgen aber gleichzeitig für hohes Tempo in Veränderungsprozessen und schüren Ängste. Organisationen müssen Full Speed im Wandel hinlegen, Entscheider:innen sehen sich in der Zwickmühle zwischen High Performance und Menschlichkeit. Denn Beschäftigte sind nicht mehr bereit, so zu arbeiten wie vor der Coronapandemie – und können es auch nicht mehr. Laut Gallup-Report „State of the Global Workplace 2023“ sind bis zu 56 Prozent aller Beschäftigten in Europa derzeit wechselwillig. Mehr als jede dritte Krankschreibung ist laut DAK Gesundheitsreport auf die Psyche zurückzuführen.
Welche Weichen sollten Unternehmen nun stellen? Auf die Suche nach Antworten machten sich jüngst Personalverantwortliche, Führungskräfte und Fachleute auf der Zukunft Personal Europe in Köln. Die größte Messe für Dienstleister aus Recruiting, Personalentwicklung und -betreuung sowie HR-Software- und HR-Systemanbieter bot eine große Bandbreite an Lösungsvorschlägen: Erstmals präsentierten sich rund 600 Aussteller in drei Hallen. Das Vortragsprogramm vom 12. bis 14. September umfasste 750 Vorträge auf 22 Bühnen.
Highlight zum Messeanfang war das Eröffnungspanel auf der Keynote-Stage unter dem Motto: “Es lebe der Mensch!” Hier ging es um Konzepte und Praxistipps für aktuelle und zukünftige Herausforderungen. Christina Bösenberg, Managing Director BCG BrightHouse, bringt es auf den Punkt: “Die Zeit des in der Hängematteliegens ist vorbei!” Angesichts einer Stapelkrise (Rezession + Fachkräftemangel + globale Unsicherheit) gelte es für Unternehmen umso mehr, wieder eine gesunde Balance zwischen People Centric und Leistungskultur zu finden. Damit das Team nicht über Gebühr belastet wird, darf die Auswahl von Mitarbeitenden keine Verzweiflungstat sein, sondern muss umso bewusster geschehen – mit Blick auf deren Mindset und Entwicklungspotenziale.
Ali Mahlodji: “Ich bin ein bekennender Feminist”
Menschlicher wird die Arbeitswelt dann, wenn in den Köpfen von Entscheider:innen eine “Revolution” stattfindet. Diese forderte Ali Mahlodji, Founder futureOne & whatchado, vor mehr als 200 Zuhörer:innen mit folgenden Worten: “Wir kämpfen noch viel zu wenig um die beiden wichtigsten Dinge, die Leben schenken. Die Mutter Erde und die Frau.” Strategien, die darauf einzahlen, bewirken Gutes in viele Richtungen: Transformation, neue attraktive Jobs, mehr Nachhaltigkeit, bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie. Aber: “In der Frauenförderung ist der wichtigste Hebel der Mann. Macht Frauenförderung daher nicht zum Frauenproblem!” Hilfreich sei es, als Mann selbst ein Male Ally zu sein (“ich bin bekennender Feminist”, so Mahlodji) oder aber in Unternehmen bewusst Male Allies, also männliche Unterstützer, zu suchen und einzusetzen.
Sind die richtigen Beschäftigten da, dürfen sich Personalentwickler:innen nicht zurücklehnen – Stichwort Wechselwilligkeit. “Nach der Honeymoon-Phase muss der Prozess weitergestaltet werden, es muss eine wertebasierte Integration geben”, betonte Prof. Simone Kauffeld von der TU Braunschweig. Unternehmenswerte sind dann Instrumente zur Mitarbeiterbindung, wenn sie von allen entwickelt und getragen werden. Flexibilisierung solle zudem nicht in starren Systemen wie der 4-Tage-Woche gedacht werden, sondern offen in alle Richtungen. Sprich: Wenn ein Arbeitgeber in jeder Lebenssituation flexibel an der Seite des Beschäftigten steht, verstärkt das die Bindung und sorgt für Loyalität.
Fortschritt und technologische Weiterentwicklung sorgen ebenfalls für mehr Mitarbeiterzufriedenheit und eine bessere Work-Life-Balance, wie Malte Hansen, Director People & Cultures ISS Communication Services unterstrich. Er sieht eine regelrechte Verpflichtung darin, Beschäftigten zielgerichtet passende Tools zur Entlastung zur Verfügung zu stellen. Im HR-Bereich helfen sie dabei, Daten besser auszuwerten und den Recruiting-Prozess zu beschleunigen. Bisher sei vor allem die Automatisierung auf dem Vormarsch, aber KI stehe bereit – beispielsweise um Karriere-Seiten mit passendem und SEO-relevanten Content zu füllen.
Dr. Miriam Meckel: “Kurzfristige Überschätzung, langfristige Unterschätzung von KI”
Hört sich Technologie beziehungsweise KI noch nach Arbeitserleichterung an, wenn weltweit 300 Millionen Jobs betroffen sein könnten? Diese Zahl hatte Dr. Miriam Meckel aus einer Studie von Goldman Sachs mitgebracht. Die CEO von ada Learning und KI-Expertin verwies darauf, dass Veränderung nicht Menschen komplett ersetzen wird, sondern zunächst Jobs verändere, neue hervorbringe und in Zukunft Skills gefragt sein könnten, die man heute so noch gar nicht kenne. Damit KI ein wirklicher Mehrwert sein kann, muss sie verantwortungsvoll mit vielfältigen Daten gefüttert werden. Ein Beispiel: Soll ein KI-Bildprogramm vier Varianten eines CEOs zeigen, dann erscheinen derzeit höchstwahrscheinlich vier ältere weiße Männer. “KI ist nicht divers”, so Meckel. Daher müsse es unser Anspruch sein, sie entsprechend mit Daten auszustatten. “KI hat auch keine moralische Empfindung”, fügte die Expertin hinzu. “KI ist ein Spiegel unserer Welt, wie sie derzeit aussieht.” Was bedeutet: Informationen, die über ChatGPT kommen, liefern schnell eine Basis an Informationen und steigern die Produktivität. Fachkräfte wiederum haben eine besonders hohe Sorgfaltspflicht in der Prüfung der Informationen.
Welch großen Raum das Thema KI derzeit einnimmt, zeigte sich am Interesse des Publikums. Die Stühle rund um die große Bühne waren schon eine Weile vor Vortragsbeginn besetzt. Zuhörende saßen bald auch auf dem Fußboden, machten Aufnahmen oder schrieben mit. Meckel war es wichtig, ihnen mitzugeben: “Ich sehe eine kurzfristige Überschätzung von KI, langfristig eine Unterschätzung.”
Expertise füttert und kontrolliert KI
Im Anschluss an den Vortrag stand die Expertin unserer Redaktion noch für ein Kurzinterview zur Verfügung. Ein Skill der Zukunft werde sein, Fakten von Fakes unterscheiden zu können, sagte sie. “Weil wir mit der Tatsache umgehen müssen, dass KI auch halluziniert. Und es werden neue Jobprofile entstehen, beispielsweise so etwas wie Human Machine Integration Manager, da wir die Verbindung von menschlicher und künstlicher Intelligenz werden managen müssen. Wir werden gute Wege finden müssen, wie das kollaborativ gehen kann.” Welche neuen Jobs entstehen und was Meckel selbst in zehn Jahren machen möchte, verrät sie im Video: