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Mental Health

Zurück zu gesunder Belastung

Mental Health muss 2023 auf die Unternehmensagenda. Burnout-Zahlen steigen rasant. Psychologin Nora Dietrich und CEO David Heidelberg teilen ihre Erfahrungen, wie eine gesunde Unternehmenskultur gelingt.

“Achtzig Prozent der Mitarbeitenden wären bereit ihren Job zu wechseln, wenn alle Bedingungen gleich wären, aber obendrauf Mental Health ein fester Bestandteil der Unternehmenskultur wäre”, betont Psychologin Nora Dietrich, die international Unternehmen zum Fokusthema Mental Health berät. Die Lage in den Firmen werde sich weiter zuspitzen. “Viele Menschen haben während der Pandemie und in den letzten Monaten viel durchgemacht.”

Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen wie Burnout oder Depressionen erreichen einen neuen Höchststand. Laut Gesundheitsreport der Krankenkasse DAK haben sich im dritten Quartal 2022 so viele Arbeitnehmer krankgemeldet wie selten zuvor, davon waren 34 Prozent mehr Ausfälle wegen psychischer Erkrankungen zu verzeichnen. Zusätzlich zeigt der Psychoreport der DAK, dass das Niveau der Fehltage 41 Prozent über dem von vor zehn Jahren lag, mit 276 Fehltagen je 100 Versicherte. In der aktuellen Stress-Studie der Techniker Krankenkasse ist die Arbeit der größte Stressfaktor (47 Prozent).

Gemeinsam einen Wellbeing Score erstellen

Um einen Gegentrend einzuläuten, müssen Firmen nachhaltig handeln. “Es ist ein längerer Weg hin zu einem Organisationsdesign, das bei seinen Leadership-Skills, Feedback-Runden und beim Thema Workload die mentale Gesundheit als festen Indikator berücksichtigt”, so Dietrich. Die 34-Jährige schätzt, dass sich derzeit “ein gutes Mittelfeld” der deutschen Unternehmen “ernsthaft Gedanken macht” und “zumindest ein kleines Budget” für mentale Gesundheit bereitstellt.

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Nora Dietrich rät Firmen, Mental-Health-Angebote langfristig zu denken.

Einen Health Day “zur Aufklärung und Sensibilisierung” findet sie gut, “aber das hilft nur, wenn sich intern wirklich etwas verändert”. Bevor Firmen auf Dienstleister zurückgreifen, sollten sie die Ist-Situation verstehen. Ein Wellbeing Score, der gemeinsam mit der Belegschaft erstellt wird, hilft herauszufinden: Was brauchen die Teams, um ihre bestmögliche Arbeit zu machen und dabei gesund zu bleiben? Mitarbeitende können bei solch einer Umfrage anonym teilnehmen und sehr ehrlich antworten.

Ist klar, welche Bedürfnisse vorliegen, kann ein auf die Angestellten zugeschnittenes Employee Assistance Program eingeführt werden – zur Unterstützung und Stärkung. Dabei handelt es sich etwa um Kurse, die freiwillig und zeitunabhängig abgerufen werden können. Auch eine Hotline für Notfälle bewährt sich zunehmend.In Gesundheitsschutz zu investieren bedeutet nicht nur, Budget aufzubringen. “Diversität, Flexibilität, Autonomie, Vertrauen und Purpose” sind tragende Säulen einer gesunden Unternehmenskultur. Expertin Dietrich: “Unternehmen haben noch zu wenig das Bewusstsein entwickelt, dass sie am Organisationsdesign Veränderungen vornehmen müssen.”

Mentale Gesundheit entsteht über Lösungen

Dass Mental Health auf C-Level angesiedelt ist, “kommt noch eher selten vor” – nach Erfahrung von Nora Dietrich. Beim IT-Unternehmen DIRS21 in Wernau am Rande der Schwäbischen Alb sieht Gründer und CEO David Heidelberg das anders. Bewusst will der 46-Jährige als Arbeitgeber “Vorreiter sein”, was eine innovative und gesunde Arbeitswelt angeht. Heidelberg beschäftigt in seinem Software-Unternehmen, ein Anbieter eines Buchungs- und Channelmanagement-Systems für die Hotellerie, derzeit knapp 100 Mitarbeiter.

“Als ich die Gelegenheit bekam, eine zusätzliche Halle mit 1100 Quadratmetern im gleichen Gebäude zu mieten, habe ich zugesagt: Weil ich die Idee hatte, Plätze, die wir als Unternehmen vielleicht jetzt noch nicht brauchen, als Co-Working-Angebot zu vermieten und in eine besondere Arbeitswelt zu investieren, die auch in der Freizeit genutzt werden kann. Und wir können jederzeit flexibel wachsen, indem wir Co-Working-Plätze für uns selbst buchen.”

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Viele Beschäftigte leiden unter mentalem Druck. Firmen müssen ihre Unternehmenskultur anpassen.

Die ehemalige Werkshalle ist bunt geworden: Schreibtische, Ohren-Sessel, Hängematten, Teamtische, Lümmel-Sitzsäcke, Strandkabinen und Zugabteile. Ein Teil der Halle ist zudem ein Fahrradladen mit “einem kleinen feinen Angebot an Bikes und Equipment”, angedockt ist noch eine Fahrradwerkstatt, wo zum einen Mitarbeitende ihre Bikes versorgen lassen können, genauso aber auch externe Kunden. Alle 45 Arbeitsplätze sind ausgestattet mit Glasfaser-W-LAN und einem großen Monitor, gebucht werden können Einzelplätze in einem Gemeinschaftsareal, aber auch Einzelkabinen oder abgetrennte Räume für zwei oder mehrere Personen.

Über ein Online-Buchungstool können freie Plätze eingesehen und reserviert werden. Das sogenannte Amphitheater, ein Versammlungsort für ca. 50 Personen, kann auch von externen Firmen für Veranstaltungen oder Team-Sessions gebucht werden. Frühstücken, Snacken und mittags warmes frisches Essen macht die integrierte Gastronomie der “Neuen Weberei” möglich. Ein Name, der zeigen soll, dass “zuvor getrennte Welten neu miteinander verwoben werden”. Das zeigt auch der Untertitel “Work-Eat-Bike”. Arbeiten, miteinander essen und Sport treiben, all das läuft hier zusammen. “Obwohl wir ländlich liegen, macht uns das attraktiv und selbst auch flexibel. 65 Mitarbeitende gibt es bisher am Standort, dazu kommt eine Zielgruppe von einer Million sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen im Umkreis von 25 Minuten.”

Mental Health als Employer Branding-Maßnahme

Lohnt sich das alles langfristig? “Den Begriff Work-Life-Balance finde ich sehr unpassend. Das impliziert, dass die Arbeit so belastend ist, dass man sich durch andere, abgetrennte Dinge wieder in eine Balance bringen müsste”, sagt Heidelberg. Bei ihm sollen sich Arbeit und Freizeit vielmehr ergänzen, statt konträr zueinander stehen. “Mein Hobby Biken ist sichtbar, aber auch jeder andere Mitarbeiter findet hier eine Möglichkeit, sich wohlzufühlen, dass er selbst produktiv arbeiten kann und jede Hilfestellung dafür bekommt, die er braucht.” Die bisherigen „normalen Büroräume“ von DIRS21 im zweiten Stock sind ebenfalls vielfältig und haben verschiedene Größen, es gibt eine moderne Küche, Essbereich, ein Kinder-Spielzimmer, Turnringe im Flur, ein Kaminzimmer zum Entspannen und eine große Außenterrasse. “Die wichtigsten Werte unserer Unternehmenskultur heißen Flexibilität, Individualität, Vernetzung und Empathie, damit wir als Unternehmen gemeinsam vorankommen.”

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Angesprochen auf die hohe Quote an Betroffenen, die unter den Belastungen Job leiden, meint Heidelberg: “Ich will zusammen mit den anderen Führungskräften eine Leadership-Kultur pflegen, die Mitarbeitende dazu aufruft, ihre Bedürfnisse offen anzusprechen.” Die Firma kommt diesen Wünschen, wo immer es geht, nach – flexible Arbeitszeiten, besondere Elternzeitmodelle, Hilfe bei der Wohnungssuche, oder auch ein Auto für einen bestimmten Zeitraum aus dem Fuhrpark ausleihen – all das ist möglich, weil es Sorgen abnimmt. Der CEO und Gründer findet: “Mentale Gesundheit entsteht über Lösungen, damit Menschen leichter und besser arbeiten können.”

Risiken gibt es dabei aber auch: “Das Anspruchsdenken kann zu hoch werden.” Deshalb will er eine offene Debattenkultur, wo überzogene Ideen auch angesprochen werden können. Aber David Heidelberg, der DIRS21 vor 26 Jahren gründete und noch einen zweiten Standort bei Leipzig betreibt, hat generell gute Erfahrungen gemacht mit Mitarbeitenden, “bei denen das grundsätzliche Mindset stimmt”. Das lasse sich zumeist sehr gut im Vorstellungsgespräch klären.

Entstigmatisierung – darauf setzen Navos und Shithow bei der Zusammenarbeit

Eine weitere Maßnahme, um Gesellschaft und Arbeitswelt langfristig für das Thema mentale Gesundheit zu sensibilisieren, ist Entstigmatisierung. Darauf setzt die PR-Agentur Navos und hat sich dafür mit dem Start-up Shitshow zusammengetan, das den sogenannten Mental Health Ambassador entwickelte. Dabei handelt es sich um ein Ausbildungsprogramm, das Mitarbeitenden Wissen rund um für psychische Belastungen und Erkrankungen vermittelt. Darüber hinaus werden Warnsignale geschult, die man künftig bei sich und anderen erkennen und konstruktiv ansprechen soll.  “Wir brennen für unseren Job, wollen aber nicht ausbrennen. Mentale Gesundheit geht uns alle an”, sagt Charlotte Holzum, Managing Partner bei navos. Benthe Untiedt, Gründerin und Geschäftsführerin von Shitshow, ergänzt: “Anders als bereits auf dem Markt befindliche Schulungen dieser Art ist das Programm speziell auf den Arbeitskontext zugeschnitten und folgt keinem starren Fahrplan.”

Alexandra Leibfried
Als Redaktionsleitung (V.i.S.d.P.) der Career Pioneer berichtet Alexandra Leibfried regelmäßig über HR-Management- und Karrierethemen. Ihre Artikel erscheinen in führenden Branchenzeitungen und -zeitschriften wie HORIZONT, ahgz und fvw I TravelTalk. Die Career Pioneer GmbH und Co. KG ist Spezialist für Stellenmärkte und Karriereformate innerhalb der dfv Mediengruppe.
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